A land of freedom
Unbedingt mit dem Motorrad!
…das war das erste, was ich dachte, an meinem ersten Reisetag durch Finnlands Süd-Osten. Ich fahre nämlich eine Kawa W 650 und eine Kawa EL 225.
Wie viele Menschen mussten wir, Rolf und ich, unsere Urlaubspläne dieses Jahr verwerfen. Eigentlich wollten wir mit den Fahrrädern durch die Rocky Mountains ziehen, um so den „Indian Summer“ hautnah zu erleben. Mit dem Fahrrad deshalb, weil Rolf (noch nicht) Motorrad fährt.
Wir wollten RAUS, WEG vom Alltag, BEWEGUNG, INSPIRATION, DAS GEFÜHL VON FREIHEIT erfahren.
Hinter uns lag monatelanges Home-Office – eine erstaunlich produktive Zeit, aber mit viel zu wenig körperlicher Aktivität. Die meist täglichen Fahrten mit dem Fahrrad quer durch München zur und von der Arbeit gingen uns ab, es fiel uns schwer einfach aufzuhören, den PC zuzuklappen, mental abzuschalten. Die Lust auszugehen, war gleich Null. Weder die sonst so begehrte Maß im Biergarten konnte uns locken, noch ein spontaner Stop in einem der kleinen Restaurants auf dem Heimweg. Mit dem Frust stieg die Sehnsucht, sich frei bewegen zu können.
“Zum Lust drauf kriegen” …, stand im Betreff der Email, die Mitte Juni in mein Postfach trudelte. Und dann im Text: “Die Seenplatte Saimaa ist einzigartig und zählt zu den fünf schönsten Seen der Welt”. Das neue Reiseziel stand fest: Finnland. Gestern noch ein Land, das „irgendwann mal interessant sein könnte“, war es plötzlich ins Zentrum unseres Interesses gerückt. Wir fingen an, zu recherchieren. Wenig Menschen auf viel Land, noch mehr Wasser, wildes Campen erlaubt, schnell und unkompliziert per Fähre zu erreichen …, das klang alles ideal für uns.
Deutschland war unter den Ländern, für die es durch Covid Einreisebeschränkungen gab, doch wir pokerten, setzten auf rückläufige Infektionszahlen, buchten Mietwagen, Plätze auf der Fähre und planten die Tour mit der Option, alles vielleicht erst im nächsten Jahr machen zu können. Egal, uns ging es sofort besser und eine nicht mehr unterdrückbare Abenteuerlust ergriff uns. Tatsächlich lies Finnland kurz vor unserem geplanten Reisestart die Einreise deutscher Urlauber wieder zu und weg waren wir.
Plötzlich waren wir allein
Mit Start der Fähre war alles anders. Nur wenige Menschen schlenderten über die Decks oder chillten in den Aufenthaltsräumen, Touristen schienen kaum dabei zu sein. Ruhe breitete sich aus. In den 1 ½ Tagen, die wir so durch die Ostsee fuhren, kamen wir runter, unsere Gedanken leerten sich langsam. Wir schauten aufs Meer, träumten vor uns hin, schliefen viel und kamen das erste Mal in den Genuss des legendären finnischen Filterkaffees, den man tatsächlich literweise trinken kann ohne die eigentlich belebende Wirkung des Coffeins zu spüren.
Angekommen in Finnland rollten wir von der Fähre, bogen ein paar Kilometer später in einen lichten Kiefernwald ab und waren auf einmal Teil der Natur. Keine Menschen, kein Haus. Kein Lärm. Auf Schotter- und Sandpisten, schmalen kurvigen Straßen, die kreuz und quer, rauf und runter und entlang zahlloser Seen führten, kurbelten wir dahin. Wechselnde Landschaften, satte Pflanzenfarben, üppige Vegetation, das bestechende Blau von Wasser und Himmel nahmen uns gefangen.
Nur hin und wieder begegneten wir einem Auto – oder Motorrad. Keine Hektik, kein Stress. Niemand hatte es eilig, keiner raste hier. Dafür hörte man sie. Meine Neugier entflammte, denn bemerkenswert viele Autos und Motorräder waren rare Oldtimer, bestens gepflegt und auf Hochglanz poliert. Nur zu gerne und mehr als einmal hätte ich mein (olles) Fahrrad am liebsten gegen eines dieser Fahrzeuge eingetauscht. Erst hörte man sie, dann sah man sie. Man sah die Leidenschaft, die Muße, den Stolz. Und sie passten verdammt gut in diese Landschaft, auf diese Straßen, perfekt in diese Kurven, Szenen wie aus einem Film …
Im Winter schrauben, im Sommer fahren – das gehört zum finnischen Biker-Leben
200 km und über 3000 Höhenmeter später, mitten im Saimaa-Seengebiet, trafen wir auf Akkseli und Samu mit ihren Bikes, einer Honda Nighthawk und einer umgebauten Kawasaki. Ich wollte unbedingt wissen, warum es so viele seltene, alte, top gepflegte Motorräder und Autos gab und warum röhrende Motoren kein Problem wären. Akkseli (zu deutsch Axel) erzählte uns, dass die Finnen gern für sich sind. Kilometerweit vom nächsten Wohnhaus oder einer Ortschaft entfernt leben sie zurückgezogen und sind auf fahrbare Untersätze angewiesen. Auto, Boot und Schneemobil gehören zum Standard. Die langen Wintermonate verbringen viele mit Schrauben an alten Autos und Motorrädern. Bei den Autos gilt ihre Vorliebe amerikanischen, geradezu spritsaufenden Straßenkreuzern, bei den Motorrädern sind es vorzugsweise alte Harleys, aber auch andere alte Originale. Akkseli: „Was man so kriegen kann“. Es sei schwierig an (Original-)Ersatzteile zu kommen, deshalb sei der Stolz umso größer, eine seltene Maschine zu besitzen. Samus größter Traum ist, seine umgebaute Kawasaki einmal auf einer der deutschen Rennstrecken richtig auszufahren: „Hier bei uns wird nicht gerast. Es wird streng kontrolliert und die Strafen bei Geschwindigkeitsüberschreitungen sind hoch“. Aber Umweltschutz ist bei uns kein Thema, wir leben ja mit der Natur und davon gibt’s mehr als Menschen.“ Würde die Regierung auf die Idee kommen, Strecken zu sperren oder eine Lautstärkenregelung einzuführen, hätte sie die Bevölkerung gegen sich. Samu: „Fahren ist Freiheit! Wir schrauben im Winter und fahren im Sommer. So oft und so weit wir können, denn der Sommer ist kurz.“
Das spüren auch wir, obwohl unsere Reise vergleichsweise kurz ausfällt. Die anfänglich langen Tage mit Sonnenuntergang gegen 23:00 Uhr wurden merklich kürzer, die geplanten Etappen zu schaffen und einen Schlafplatz in der Wildnis, an einem See, im Wald oder einem Felsen zu finden, wichtiger. Unterwegs lernten wir ziemlich schnell zu essen, wenn’s was gibt und was es gibt: Burgerit (Burger) und Pizzerit (Pizza). Finnen leben den “American Style”, sie stehen auf Hamburger und Fertiggerichte. Ein Paradies für Fast Food Freaks, denn sie finden schränkeweise Fertiggerichte in den Supermärkten. Auch Fast Food- und Drive-In-Restaurants (häufig in Verbindung mit Tankstellen) im amerikanischen Stil sind typisch. Cafés am Straßenrand sind selten, richtig gute Restaurants auch und sehr teuer dazu. Nachdem unser Campingkocher den Geist aufgab, gab’s fortan abends Würstchen und Rentier-Geschnetzeltes, am Feuer gegrillt und kombiniert mit verschiedenen Soßen und Brot, sowie manchmal eine Büchse Bier. Erstaunlicherweise (glücklicherweise!) haben die Finnen viel tschechisches Bier. Leider traute Rolf meinen Pilzkenntnissen nicht. In den Wäldern findet man kiloweise Steinpilze und Pfifferlinge, aber auch Blaubeeren, Himbeeren, Preiselbeeren, Johannisbeeren und wer will, kriegt für kleines Geld eine Lizenz und kann sich sein Essen aus den Gewässern angeln.
Unterwegs auf Museumsstraßen
Gleich zwei solcher Straßen haben wir von Anfang bis zum Ende befahren. Die Straßen sind perfekt ausgebaut, dienten sie doch der Postversorgung. Die Niskapietilä Museum Road führt mehr oder weniger entlang es eisernen Vorhangs, während die Tallimäki-Virojoki Museum Road entlang der Küste führt: beide Straßen sind ein Traum zum Cruisen. Die Nähe zur russischen Grenze berührte uns seltsam. Es ist eine grüne Grenze, Waldgebiet, doch jeder 4. Baum ist markiert und Schilder weisen ausdrücklich darauf hin, dass jeder Schritt über die Markierungen genau überlegt sein will.
Ein Land fürs Motorrad und Freiheit im Kopf
Jeden einzelnen Tag unserer Fahrradreise durch Finnland hatte ich vor Augen, wie es wäre dies auf dem Motorrad zu erleben. Deshalb stellen wir die Route für alle Interessierten zur Verfügung. Viele Abschnitte können auch mit Motorrad befahren werden, einige wenige Etappen müssen anders geplant werden, da sie nur für Fahrradfahrer zugelassen sind. Doch vielleicht inspiriert meine Erzählung ja den einen oder anderen Biker dazu, nach Finnland zu fahren um das Land kennenzulernen.
Über diesen Outdooractive-Link könnt ihr unsere Route abrufen. Mehr über das Saimaa-Seenland erfahrt ihr hier. Falls ihr noch weitere Fragen zu unserer Finnland-Reise habt, könnt ihr mich jederzeit gerne kontaktieren: cm(at)x-log.de
Was sind wir ohne Freiheit?
Diese Frage, mit der sich schon die großen Philosophen dieser Welt beschäftigten ist präsenter denn je für mich. Ich bin sowieso ein freiheitsliebender Mensch, reiselustig, erlebnishungrig, unruhig wenn ich den ganzen Tag still sitzen muss. Seit Jahren beobachte ich mit einer gewissen Besorgnis die zunehmende Einschränkung persönlicher Freiheit in vielen Bereichen unserer Gesellschaft. Dieses Jahr jedoch bedeutet für mich Dauerzustand an Einschränkung, Besorgnis, Disziplin, gemischt mit vielen anderen Gefühlen in den verschiedensten Ausprägungen.
“Wewanttobreakfree” ist für mich eine Methode, ein Mittel, eine Inspiration, neue Wege zu finden, umzudenken, sich zu vernetzen um gemeinsam dieses Jahr und seine Folgen zu überstehen. “Wewanttobreakfree” steht aber auch für das, was wir sind, was wir fühlen, uns wünschen, erleben, so unterschiedlich wir auch sein mögen. Ich glaube, dass gerade diese Vielfalt hohes Potential hat.
Charlotte Matzner | x-log Elektronik GmbH | 28. August 2020